Archiv der Kategorie: Leseprobe

Leseprobe I: Einleitung

Die Geschichte des Konzentrationslagers Theresienstadt ist sehr gut dokumentiert und vielen aus dem Schulunterricht oder aus den Medien bekannt. Theresienstadt galt als ›Vorzeigegetto‹, tatsächlich aber diente es als Durchgangslager für den Weitertransport der Juden in die Vernichtungslager, zumeist nach Auschwitz. Von denen, die nicht weitertransportiert wurden, starben Zehntausende an den Folgen von Hunger und Krankheit. Gemeinsam mit meinen Eltern verbrachte ich drei Jahre meiner Kindheit in Theresienstadt. Weniger als zweihundert von uns deutschen Kindern, manche sagen weniger als einhundert, überlebten das Lager. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte habe ich als Zeitzeugin zahlreiche Schulen besucht und Schülern von meiner schwierigen Kindheit zwischen Niederrhein und Theresienstadt erzählt. Mein Hauptanliegen dabei war es, ihnen nahezubringen, wie wichtig es ist, für Toleranz und Nächstenliebe einzutreten und jeden, egal welcher Hautfarbe, Religion oder Überzeugung, zu respektieren. Auch vor Erwachsenen habe ich immer wieder Vorträge gehalten und meine Zuhörer gebeten, sich dafür einzusetzen, dass die Würde des Menschen geachtet wird. Während meiner langjährigen Tätigkeit als Kindergärtnerin bemühte ich mich stets, schon den Jüngsten diese Weltanschauung zu vermitteln. Kinder und Jugendliche waren für mich immer die wichtigsten Zuhörer. Die heutige Generation ist nicht für die Taten ihrer Eltern und Großeltern verantwortlich. Aber sie muss bei sich selbst und in ihrer Umwelt die Liebe zum Mitmenschen fördern und Hass und Menschenverachtung im Keim ersticken. Eltern müssen ihren Kindern die Gelegenheit geben, sich mitzuteilen, müssen ihnen zuhören und sie zu kritikfähigen Menschen werden lassen. Wie eine Pflanze Licht benötigt, so brauchen unsere Kinder Entfaltungsmöglichkeiten, Achtung und Pflege, und schließlich das Loslassen der Eltern, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

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Leseprobe II: Jud Maxe, der Wüstensohn

Mein Vater ging oft zu den Veranstaltungen der Nationalsozialisten, er war ja auch sonst bei allem dabei, und gab lautstark seiner Missbilligung Ausdruck, ganz nach dem Motto, das er mir einige Jahre später in mein Poesiealbum schrieb: »Ein gerades Ziel, ein rechter Weg, und ein entschiedenes Ja und Nein.« In den Versammlungen der Nazis sagte er zu den Versammelten: »Glaubt das nicht, das ist alles Schwindel!« So nahm er  als Junggeselle mutig und niemandem verpflichtet den Kampf auf. Er eckte damit natürlich oft an. Als er im Spätsommer 1933 eines Tages beim Billardspiel in der Wirtschaft gegenüber seinem Elternhaus war, wurden von einigen anwesenden jungen Nazis, die nicht aus Weeze kamen, hässliche Bemerkungen gemacht. »Seht den Jüdd, wie der spielt,« riefen sie. Irgendwann war Vater es leid und sagte: »Ich will Ihnen mal was sagen, meine Herren. Die Juden sind durchs rote Meer gekommen und kommen auch durch diese braune Scheiße.« Bald darauf wurden Vater Handschellen angelegt, und er kam ins Zuchthaus Kleve. Der Friseur K., so sagte Vater, setzte daraufhin eine Anzeige in die Zeitung, in der stand: »Jud Maxe, der Wüstensohn, der edle Hebräer, wer ihn besuchen will, kann ihn im Luftkurort Kleve im Zuchthaus für vier Monate antreffen.« Vater fand das nicht so schlimm und sagte nur: »Da schreibt er doch wenigstens, dass alle Leute wissen, dass ich ein edler Hebräer bin.«

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Leseprobe III: Umzug wider Willen

Eines Tages teilte unser Vermieter meinen Eltern mit: »Ich als Nationalsozialist verlange, dass die Juden Devries die Wohnung räumen.« Die Weezer Bevölkerung war zu ihren jüdischen Mitbürgern damals zum größten Teil gut, doch es gab eben auch Mitläufer und Menschen, denen es sozial durch einen Beitritt in die Nazipartei besser ging, insbesondere wenn sie viele Kinder hatten. Das war natürlich eine schwierige Situation für Mutter, und sie hatte wenig Zeit für mich. Sie erzählte später oft, dass unser Vermieter darauf bestand, dass wir die Wohnung noch vollkommen renovierten, bevor wir auszogen. Nach dem Krieg hatte er ein Schuhgeschäft in Weeze. Wir behelligten ihn nie. Mutter sagte damals zu mir: »Kind, das ist schön! Wir ziehen jetzt um. Dann bring mal die Gartenstühlchen rüber zur Renate und zu den anderen Kindern.« Renate wohnte gleich nebenan. Also brachte ich allen Nachbarskindern, die ich kannte, die Stühlchen. Das Gartentischchen trug Vater herüber. Ich weiß noch, wie sehr ich mich auf unsere neue Wohnung freute. Als ich davon vor einigen Jahren bei einem Vortrag in Weeze erzählte, stand Renate auf und sagte: »Die Stühlchen haben wir heute noch. Und ich weiß es noch ganz genau, wie Edith damit gekommen ist. Da haben wir uns so gefreut, dass wir die kriegten.«

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